Zeitzeuge einer Ära, die zu Ende geht
KOLUMNE Als Gründer der TIR gehört Hans J. Betz wohl zu den letzten Zeitzeugen der Gründung von Iveco – der Industrial Vehicle Company – im Jahr 1975. Das Tafelsilber wechselt nun zu Tata Motors, und eine Epoche europäischer Wirtschaftsgeschichte neigt sich mit dem Verkauf dem Ende zu.

Übernahmen in der Automobilgeschichte sind beinahe so alt wie das Auto selbst, denn bereits 1908 legte General Motors den Grundstein zum Globalplayer, indem nach und nach Marken wie La Salle, Buik, Oldsmobile, Cadillac oder Rapid Motor, der spätere Nutzfahrzeug-Hersteller GMC, in die GM integriert wurden. Am Rande erwähnt sei auch das Engagement von GM in der Schweiz, wo in Biel ab 1935 Fahrzeuge entstanden. Ein Segen für die Stadt, die damals beinahe 4000 Arbeitslose zählte. Bis zur Einstellung der Fertigung 1975 wurden hier 329.864 Autos von GM hergestellt.
Um zu verstehen, was sich heute ereignet, muss man das Rad der Zeit bis an den Anfang der 1950er Jahre zurückdrehen. Die Schweiz war so etwas wie eine Insel der Glückseligen, denn Europa lag in grossen Teilen in Schutt und Asche, kämpfte mit einer zerstörten Infrastruktur. In Deutschland durften beispielsweise bis 1950 keine Lkw mit über 150 PS, mehr als zwei Achsen oder Allradantrieb gebaut werden. Es herrschte Fahrzeugmangel, zwei Anhänger waren im Fernverkehr die Norm. Doch es ging aufwärts, das Wirtschaftswunder machte sich bemerkbar, die ersten VW Käfer quälten sich über den Gotthard, die Deutschen entdeckten das Tessin, gut betuchte Engländer blieben über Wochen, brachten den Siddley-Armstrong, den Bentley oder den Rolls mit Flugzeugen des Typs Bristol Super Freighter MK32 nach Basel, die drei Autos und 20 Passagiere befördern konnten. Die Kosten für ein Auto und vier Passagiere betrugen «one way» etwa 340 Pfund, bei einem Kurs von damals 1 : 12,20 gut 4148 Franken, sicher keine Kleinigkeit.

Längst vergangene Automarken
Das Strassenbild prägten in den 1950er Jahren Klein- und Mittelklasseautos von Austin, Morris, Riley, MG, Renault, Fiat, Panhard, Simca oder DKW. Amerikanische Fahrzeuge von Chrysler, Studebaker oder Chevrolet, aber auch Mercedes-Benz waren einer reicheren Klientel vorbehalten, oder wurden als Dieselversionen bei Taxibetrieben eingesetzt.

Bei den Nutzfahrzeugen war das Bild noch vielfältiger: Opel Blitz und Saurer aus den Vorkriegsjahren, letztere noch mit Benzinmotoren, Austin 5 Tonnen Camions, OM, Postfourgons von Mowag, Morris-Lieferwagen, Thames Trader, Chevrolet, Leyland, Borgward oder Ford kümmerten sich um das, was in Neudeutsch Logistik genannt wird. In verschiedenen Städten wurden vor allem bei Brauereien noch Pferdefuhrwerke eingesetzt und in Basel operierte der offizielle Bahncamionneur Fritz Meyer ebenfalls noch mit Ross und Wagen.
Als Sohn eines Garagisten und Transpörtlers erlebte ich diese Epoche hautnah mit, da sich die Werkstatt und Tankstelle meines Vaters zwischen der Transitstrasse für den Verkehr von und nach Frankreich und der Bahnstrecke von Mulhouse nach Basel hindurchquälte. Es gab kaum eine Auto- oder Nutzfahrzeugmarke, die nicht an mir vorbeifuhr. Zahlreiche Grenzgänger kamen mit dem Velo Solex und tankten einen Liter 2-Takt-Gemisch, andere wiederum liessen sich Zwei-Liter-Bidons füllen, verstauten diese im Kofferraum oder neben dem Heckmotor, da das Benzin in Frankreich vier Mal teurer war. Sogar französische Lokführer, die im gegenüberliegenden Bahnhof Basel St. Johann auf die Weiterfahrt warten mussten, hatten immer eine Umhängetasche mit einem Bidon dabei, der gefüllt werden wollte. Bei diesem kleinen Grenzverkehr drückten die französischen Zöllner meist beide Augen zu.

Switzerland first
Protektionistische Massnahmen zum Schutze der SBB und der einheimischen Fahrzeugindustrie waren noch lange aktiv. Wer Güter mit einem Lastwagen in einem Bahnhof abholen wollte, musste eine sogenannte Camionabfuhr bezahlen. Gefährliche Einachsanhänger und Fahrzeugbreiten von 2,3 Metern, die keine rationelle Palettenbeförderung zuliessen, waren alltäglich. Auch konnte man ohne Umladen oder Zwischenlagerung von einigen Tonnen mit einem 32-t-Lastzug nicht weiter als zehn Kilometer in die Schweiz hineinfahren. Dies geschah in Basel auf dem Gelände der grenznahen Erpag-Tankstelle oder bei der Transport Union in Muttenz. Damit man überhaupt dorthin fahren durfte, musste an der Grenze allerdings ein 5-Franken-Schein gelöst werden, woran sich ältere Chauffeure bestimmt noch erinnern können.
Wer bis in die 1960er Jahre einen schweren ausländischen Lkw importieren wollte, musste dafür gewichtige Gründe haben, etwa die lange Wartezeit auf einen Saurer, Berna oder FBW. Ende der 1960er Jahre änderte sich das Bild jedoch allmählich, denn das Importstatut für schwere Nutzfahrzeuge wurde 1968 aufgehoben. Dadurch wurden immer mehr ausländische Fabrikate in Verkehr gesetzt. Importeure gaben nunmehr den Ton an, darunter die Truck AG in Zürich mit Scania-Vabis, IVI in Grancia mit OM und Fiat, Thommen in Bubendorf mit Unic, Vallet und Steullet in Aesch BL mit Henschel, Hämmerli in Lenzburg mit Magirus oder Alfag in Schlieren mit MAN. Auch Krupp, DAF, Hanomag und Büssing prägten immer mehr das Schweizer Strassenbild, die Dominanz von Saurer und FBW verschwand allmählich.
Und es gab immer mehr Übernahmen und Fusionen. Henschel geriet unter das Dach von Mercedes, der Löwe von Braunschweig, Büssing, prangte unter dem Logo von MAN und Marken wie Krupp oder Borgward verschwanden komplett von der Bildfläche. Und plötzlich war sie da, die Iveco. Das war vor 50 Jahren und bedeutete für einige Importeure das Ende, sorgte aber auch für tiefgreifende Veränderungen bei Personalien. So bedeutete dies für einen engen Freund und Wegbegleiter, den Hämmerli-Magirus-Pressechef Erich Hürzeler, ein Drama. «Hürzi» war durch und durch ein Magirus-Mann, organisierte Reisen für Unternehmer und Chauffeure ins Werk Ulm Donautal und in Lenzburg den legendären Magirus-Tag. Meine letzte Begegnung mit «Hürzi» hatte ich auf dem Friedhof von Seon.

Eine starke Marke sollte es richten
Die Gründung der Iveco war nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass man jenseits des Gotthards wenig Vertrauen in italienische Produkte hatte – und auch den exorbitant hohen Entwicklungskosten bei den jeweiligen Herstellern. Durch den Zusammenschluss von Fiat, OM, Unic und Magirus zur Iveco entstand eine starke Marke, die immer mehr an Bedeutung gewann. Heute kaum bekannt ist, dass Saurer Arbon seit 1935 Motoren für OM und später auch für Iveco entwickelte.
Die Gründung der Iveco war aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich ein Ereignis. In Turin empfing Fiat-Eigentümer Gianni Agnelli nicht allein die Weltpresse, sondern auch sonst alles, was Titel und Namen hatte. Eindrücklich war unter anderem der farbenfrohe Vorbeimarsch der Bersaglieri, des Garderegiments aus dem Piemont und verschiedener Musikgruppen. In der Schweiz hingegen geschah in erster Linie noch nicht viel, IVI und Hämmerli behielten ihre Mandate als Importeure. Die Integration in die Iveco Schweiz erfolgte langsam und war für die Kunden kaum merkbar. Nach einigen Jahren übernahm Iveco Schweiz die gesamten Importtätigkeiten, die ehemaligen Importeure wurden zu Vertragshändlern.

Übernahmen auch in der Schweiz
Eingangs schrieb ich, dass wir sehenden Auges Europas Tafelsilber verkaufen würden. Und das nicht erst seit gestern: So wurde die Koninklijke Hoogovens in Ijmuiden, eine Eisengiesserei und Stahlfabrik, die auf dem grössten zusammenhängenden Industriegelände des Landes angesiedelt war, an die indische Tata Steel verkauft. Volvo (Pw), Polestar und Lotus gehören mittlerweile dem chinesischen Autogiganten Geely, während sich DAF Trucks unter dem Dach von Paccar USA befindet. Auch in der Schweiz, vor allem im Berner Oberland, haben ausländische Übernahmen ihre Spuren hinterlassen. Mittlerweile befinden sich bereits über 20 Prozent der besten Hotels in dieser Region in den Händen von russischen, chinesischen und indischen Investoren. Das Sprichwort «wehret den Anfängen» stammt ursprünglich aus der römischen Dichtung von Ovid, hat aber auch heute seine Gültigkeit nicht verloren. Allein haben verantwortliche Wirtschaftsführer, aber auch Politikerinnen und Politiker noch nie etwas davon gehört.

Und noch etwas: In den 1950er-Jahren gab es in der Schweiz weit über 30 Nutzfahrzeugmarken. Nur wenige davon konnten überleben, denn die Entwicklungskosten waren auch damals schon extrem hoch. Wenn ich den Lkw-Markt vor 50 oder 60 Jahren betrachte, fällt mir eine ehrliche Bescheidenheit auf. Nicht Shareholder-Value, nicht Taschen füllende CEO waren das Mass aller Dinge, sondern Zuverlässigkeit und eine Rendite, die auch ethisch vertretbar war. Wie der Markt auf die Übernahme der Iveco durch Tata reagiert, kann derzeit nicht eingeschätzt, sondern nur vermutet werden.
Zum Autor Hans J. Betz
Viele jüngere Leserinnen und Leser können mit meinem Namen kaum etwas anfangen. Geboren und aufgewachsen in einem kleinen Basler Transport- und Garagenbetrieb, habe ich wahrscheinlich Diesel und Benzin mit auf den Weg bekommen. Dies führte schliesslich dazu, dass ich im Alter von 22 Jahren die Fachzeitschrift TIR gegründet habe. Innerhalb weniger Jahre wurde TIR zur führenden Schweizer Lastwagen-Zeitschrift. Meilensteine waren Teilnahmen am Nutzfahrzeugsalon in Genf, die von TIR organisierten Truck-Messen in Luzern, wo sogar ein kompletter australischer Road Train präsentiert werden konnte, sowie die beliebten TIR-Leserreisen für Chauffeure und Unternehmer. Nach dem Verkauf der Verlagsrechte emigrierte ich in die Niederlande, wo ich zusammen mit meiner Frau Beatrice ein international tätiges Pressebüro und einen Verlag für Bootssport gründete. Mittlerweile bin ich 77 und schreibe noch immer gerne mit spitzer Feder, auch für meine ehemalige Zeitschrift TIR.

